Hightech-Standort Deutschland

Deutschland ist seit Beginn der Industrialisierung ein Innovationstreiber und in vielen Branchen weltweit führend. Doch neue Mitspieler auf dem Weltmarkt sind oft agiler und werden weniger beschränkt durch Gesetze und Bürokratie
Illustration: Tolga Akdogan
Illustration: Tolga Akdogan
Andrea Hessler Redaktion

Trotzdem stimmt das Bild des zurückgebliebenen Ex-Champions nicht. Das beweist der Blick auf einige Schlüsselbranchen wie Medizintechnik, Robotik und Fahrzeughersteller.


Die Politik hat viel vor: „Vom Erfinderland zur Innovationsnation: Fortschrittsgeschichte mit Zukunftsperspektive“ – unter diesem Motto steht die „Hightech-Strategie 2025 (HTS 2025)“ der Bundesregierung. Deren Ziel ist, so ist es auf der Website des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zu lesen, „Forschung voranzutreiben und innovative Ideen in die Praxis zu überführen.“


Helfen bei der Umsetzung der HTS 2025 soll das „Hightech-Forum“. Es ist ein Beratungsgremium aus 21 Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft, das „Umsetzungsimpulse“ und „Handlungsempfehlungen“ formuliert. Schon im Jahr 2017, also lange vor Beginn der Corona-Pandemie, forderten die Experten zum Beispiel, eine Online-Gesundheitsplattform aufzubauen, um alle Beteiligten des medizinischen Betriebs besser zu vernetzen und die Datennutzung zu optimieren. Nach Impfdebakel, Corona-App-Pleite und Masken-Skandalen mag allerdings der Eindruck entstehen, als sei dieser Vorschlag bei Politikern nicht gerade auf offene Ohren gestoßen. Auch weitere Innovationsschritte, welche die Experten des „Hightech-Forums“ auf 72 Seiten anregen, scheinen bisher kaum umgesetzt zu werden.  
Doch ist die Lage wirklich so schlecht? Zwar sehen auch Vertreter der Wirtschaft die Situation von Fortschritt und Innovationen hierzulande eher kritisch. So forderte zum Beispiel Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) beim Tag der Industrie, der im Juni in Berlin stattfand: „Deutschland braucht eine Wachstums- und Investitionsoffensive. Der Industriestandort muss zu einem Zukunftsort werden.“ Ein genauerer Blick auf verschiedene, auch traditionelle, Branchen zeigt jedoch, dass es bereits zahlreiche „Zukunftsorte“ gibt. Dazu zählt insbesondere die Medizin. Den Beweis liefert der Global Innovation Index (GII) 2020, der unter dem Motto „Gesunde Lebenswelten schaffen – die Zukunft medizinischer Innovation“ stand. Der GII sieht Deutschland im Ranking der einkommensstarken Länder hinter den USA auf dem zweiten Platz. Gründe für den Platz auf dem Sieger-Podest: Quantität und Qualität innovativer Leistungen wie etwa internationale Patente und Publikationen.


Innovative Medizintechnik hat in Deutschland eine lange Tradition. Vor mehr als 100 Jahren operierte der Chirurg Ferdinand Sauerbruch erstmals in einer Unterdruckkammer am offenen Brustkorb; heute entwickeln deutsche Startups wie BioNTech in Kooperation mit Pharma-Multis wie Pfizer revolutionär neue Impfstoffe wie Comirnaty gegen Corona, eines der prominentesten Medizinerzeugnisse der vergangenen Jahre.


Doch auch weniger bekannte Spezialisten wie das Biotechnologie-Unternehmen Zellkraftwerk GmbH in Leipzig sind Pfeiler der Medizintechnik-Branche in Deutschland. Die Leipziger entwickelten die Chipzytometrie, eine neue Methode, Zellen mittels fluoreszierender Biomarker zu färben, um sie besser untersuchen zu können. Der chinesische Ingenieur Tian Qui wiederum forscht an der Universität Stuttgart in der Spezialabteilung „Biomedical Microsystems“ zu Mikrorobotern, die durch menschliches Gewebe wandern können, um Medikamente punktgenau zu platzieren. Auch am Hasso-Plattner-Institut (HPI) in Potsdam tüfteln Medizin-Expertinnen und -Experten an zukunftsträchtigen Medikamenten und Therapien. Die Psychologin und Informatikerin Hanna Drimalla etwa ist spezialisiert auf Risikofaktoren für psychische Erkrankungen. Sie untersucht unter anderem mit computerbasierten Methoden, wie sich das Spiegeln von Gesichtsausdrücken (Mimikry) auf das Erkennen und Mitfühlen von Emotionen auswirkt. Nicht um psychische, sondern körperliche Defizite geht es bei der Arbeit von Theodor Doll und seinem Team am Fraunhofer-Institut für Toxikologie und Experimentelle Medizin (ITEM) in Hannover. Sie haben ein Verfahren entwickelt, mittels 3D-Drucker medizinisches Silikon herzustellen. Die Forscher um Doll streben eine stärker individualisierte Medizin an und wollen die Lücke zwischen Forschung und Anwendung schließen.


Letztlich hat jedes medizintechnische Forschungsprojekt zwei Ziele: Patienten noch besser zu versorgen und mit den entwickelten Produkten Geld zu verdienen. Genau das gelingt der deutschen Medizintechnikbranche im In- und Ausland exzellent. Ihr jährlicher Umsatz liegt bei mehr als 33 Milliarden Euro, die Exportquote bei 65 Prozent. Ein Beweis für die hohe Innovationskraft ist, dass die Unternehmen rund ein Drittel des Umsatzes mit Produkten verdienen, die jünger als drei Jahre sind. Sie investieren laut Branchenverband BVMed rund neun Prozent ihres Umsatzes in Forschung und Entwicklung. Der wirtschaftliche Erfolg gelingt dank privater und öffentlicher Förderung, exzellent ausgebildeter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie zahlreicher Möglichkeiten, das an Universitäten erworbene Know-how kommerziell in Spin Offs der Unis zu nutzen.


Deutsche Medizintechnik ist eine Erfolgsgeschichte. Und auch andere Branchen mit Tradition stärken mit ihrer Innovationskraft den Standort Deutschland. Weltweit den zweiten Platz beim Umsatz hinter Japan belegen die Hersteller von Industrierobotern, einer der Schlüsselbereiche des Maschinen- und Anlagenbaus. „Die Prognose für das laufende Jahr zeigt eine kräftige Erholung und bedeutet eine positive Trendwende für die Branche“, sagt Wilfried Eberhardt, Vorsitzender des Verbands VDMA Robotik + Automation. Er rechnet damit, schon bald das Rekordjahr 2018 zu übertreffen. Innovations- und Wachstumstreiber sind, so der Verband, vor allem Green-Technology-Lösungen. So helfen in der Landwirtschaft Feldroboter dabei, Unkraut durch künstliche Intelligenz zu lokalisieren und gezielt mit Lasern zu verbrennen.
Seit Carl Benz den Verbrennungsmotor erfand, ist Deutschland die führende Auto-Nation. Um konkurrenzfähig zu bleiben, forciert die Industrie neue Technologien wie den Wasserstoffantrieb. Diese Fahrzeuge sollen nicht nur energiesparend und umweltschonend fahren, sondern auch entsprechend produziert werden. So bietet das Unternehmen Innocise in Saarbrücken neuartige Robotergreifarme an, die bionische Hafteigenschaften nutzen. Dies senkt den Energiebedarf in der Produktion erheblich. Im Auto der Zukunft kommen moderne Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) zum Einsatz. Aktuell läuft bereits die vierte Förderrunde des Technologieprogramms „IKT für Elektromobilität: intelligente Anwendungen für Mobilität, Logistik und Energie“, mit der das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie neue Fahrzeug- und Logistikkonzepte unterstützen will.


Für die Senkung des CO2-Ausstoßes ist die Umstellung auf neue, grüne Energien unerlässlich. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Nutzung der Sonnenenergie. So entsteht mit Unterstützung der Konstanzer Firma RCT Solutions in der Türkei das sechstgrößte Sonnenkraftwerk der Welt, das später ein GW Strom aus Sonnenenergie erzeugen wird. Sonnennutzung in einem heißen Land wie der Türkei liegt nahe. Doch auch in Regionen mit weniger Sonnenstunden gibt es verblüffende Möglichkeiten, die Energieausbeute von Solarmodulen zu steigern. So hat die BayWa r.e., ein Unternehmen des BayWa-Konzerns mit Hauptsitz in München, auf einem zuvor ungenutzten niederländischen Baggersee eine riesige Solaranlage installiert. Die Solarboote mit 73.000 Modulen wurden am Seeufer zusammengebaut, aufs Wasser transportiert und am Seegrund verankert. So ist der freie Wasserfluss und eine gute Lichtdurchdringung garantiert. Zum Schutz von Flora und Fauna rund um die Anlage wurden „Bio-Hütten“ im Wasser installiert.


Die feinmechanische und optische Industrie ist ein weiterer Erfolgsfaktor der deutschen Wirtschafts- und Innovationsgeschichte. Seit Carl Zeiss in Jena die ersten Mikroskope baute, zählen deutsche Optik-Unternehmen zur Weltspitze. Wichtiger innovativer Teilbereich der optischen Industrie ist die Photonik. Sie umfasst alle Unternehmen, die Produkte und Dienstleistungen zur technischen Anwendung des Lichts entwickeln und produzieren. Die rund 1.000 deutschen Photonik-Unternehmen beschäftigen zirka 140.000 Mitarbeiter und liefern Komponenten für andere Schlüssel-Branchen wie Autohersteller, Maschinenbauer und Life-Science-Unternehmen. Das führerlose Fahrzeug, Glasfaser-Datenübertragung, medizinische Instrumente für Diagnose und Therapie sowie Nachrichtenübertragung mittels Lichtleitfaser sind nur einige Beispiele der zahlreichen Nutzungsmöglichkeiten von Photonik-Produkten. „Mit innovativen High-End-Produkten sind die deutschen Hersteller dabei in zahlreichen Anwendungsfeldern der Photonik weltweit führend“, sagt Bernhard Ohnesorge, Geschäftsführer der Carl Zeiss Jena GmbH.


Die Beispiele zeigen nur einen Ausschnitt aus dem breiten Innovationsspektrum, in dem deutsche Unternehmen äußerst erfolgreich agieren. Der „Zukunftsort“, den BDI-Präsident Russwurm beschworen hat, ist also nicht überall, aber in vielen Bereichen längst Realität.

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