Telemedizin darf jetzt Leben retten

Deutschland steht ein Boom von telemedizinischen Anwendungen bevor. So funktioniert die Digitalisierung in der Praxis.
Illustration: Wyn Tiedmers
Philipp Grätzel Redaktion

Es gab Zeiten, da galt es in Deutschland als fast obszön, Patienten telemedizinisch zu versorgen. Die Ärztekammern untersagten Behandlungen über Kommunikationsmedien qua Berufsordnung. Die Krankenkassen fanden Telemedizin zwar theoretisch super, kniffen aber regelmäßig bei der Erstattung. Doch die Zeiten haben sich geändert. Wenn nicht alles täuscht, steht dem deutschen Gesundheitswesen gerade eine Welle an telemedizinischen Versorgungsszenarien bevor.


Eines der eindrucksvollsten Beispiele dafür, wie stark Patienten davon profitieren können, lieferte eine deutsche Studie. An der von Prof. Dr. Friedrich Köhler, Charité Berlin, koordinierten TIM-HF2-oder FONTANE-Studie hatten über 1500 Patienten mit chronischer Herzschwäche teilgenommen. Die Hälfte der Patienten übermittelte nach Entlassung aus dem Krankenhaus von zuhause aus Blutdruck, Gewicht und andere Vitalparameter und wurde in einem telemedizinischen Service-Zentrum eng überwacht. Das hatte Wirkung: Die Sterblichkeit der telemedizinisch versorgten Patienten über zwölf Monate war um mehr als ein Viertel niedriger als bei Patienten ohne Telemedizinversorgung.


Die TIM-HF2-Studie hat aber einen Schönheitsfehler. Die Kosten: Sollen alle über 100.000 in Frage kommenden Herzschwächepatienten in Deutschland überwacht werden, wären bis zu 200 Telemedizinzentren nötig. „Das ist finanziell und personell ein unrealistisches Umsetzungsszenario“, so Köhler. Der Kardiologie setzt deswegen auf Künstliche Intelligenz: In dem vom Bundeswirtschaftsministerium geförderten Telemed5000 Projekt sollen intelligente Algorithmen trainiert werden, die die Tele-Ärzte bei der Versorgung unterstützen und es ihnen erlauben, mehr Patienten als bisher parallel zu betreuen – am besten so viele, dass am Ende vielleicht 25 Zentren deutschlandweit ausreichen. Bis es so weit ist, hat die Barmer angekündigt, zumindest im Berliner Raum die telemedizinische Überwachung bei Herzschwäche regelhaft zu erstatten. Bis zu 500 Patienten gleichzeitig können unter dieser Vereinbarung ab sofort betreut werden.

 

Herzschwäche digital überwachen

 

Wie Künstliche Intelligenz bei der Überwachung von Herzschwäche konkret eingesetzt werden kann, zeigt die im Februar publizierte LINK-HF-Studie aus den USA. Dort wurde ein Telemedizin-Pflaster genutzt, das Herzfrequenz, Herzrhythmus, Atemfrequenz und körperliche Aktivität messen kann. Ein selbstlernender Algorithmus erkennt, wenn sich an der Gesamtsituation des Patienten etwas ändert. So können drohende Klinikeinweisungen im Mittel sechs Tage vorher erkannt werden, und die Ärzte im Telemedizinzentrum können sich um diese Patienten dann besonders intensiv kümmern.


Auch in der Intensiv- und Notfallmedizin kann die telemedizinische Versorgung großen Nutzen stiften. Prof. Dr. Gernot Marx vom Universitätsklinikum Aachen leitet in Nordrhein-Westfalen das Telemedizinprojekt TELnet.NRW. Kernanliegen ist die telemedizinische Beratung bei Patienten mit Infektionen, sowohl in Krankenhäusern als auch bei niedergelassenen Ärzten. Dadurch sei es gelungen, den Anteil der Patienten, die bei Atemwegsinfektionen leitliniengerecht behandelt werden, um ein Drittel zu steigern, sagte Marx bei einem Leopoldina-Symposium in Berlin. Bei Sepsis, also schweren, generalisierten Infektionen, stieg der Anteil der korrekt versorgten Patienten sogar um das Vierfache.


Auch das Berliner ERIC-Projekt ist in der Intensivmedizin angesiedelt. Dort finden Audio-Video-Konsultationen statt, um die Patienten nach der Entlassung besser zu betreuen. Außerdem beraten die Experten Kollegen anderer Krankenhäuser in Sachen Prävention negativer Folgen einer intensivmedizinischen Versorgung. „Wir sehen viele Menschen, die nicht hätten gerettet werden können oder ein deutlich schlechteres Ergebnis gehabt hätten, wenn es diese Kooperationen nicht gegeben hätte“, sagte Björn Weiss von der Anästhesie der Charité Berlin.

 

Videokonsultation in Schweden

 

Vor einem wahren Telemedizin-Boom dürfte in den nächsten zwei Jahren die ambulante Versorgung stehen. In Ländern wie Schweden wird längst ein erklecklicher Teil der normalen Arztbesuche per Video abgewickelt. Der Arzt entscheidet dann, ob er dem Patienten auf Basis der zugänglichen Informationen ein Rezept und ggf. eine Krankschreibung ausstellt oder ob er einen Praxisbesuch empfiehlt. In Deutschland scheiterte die Umsetzung solcher Tele-Sprechstunden bisher daran, dass Ärzte sie nicht vernünftig abrechnen konnten und daran, dass es keine elek-tronischen Rezepte gab.


Beides hat sich geändert: Seit Herbst 2019 dürfen Ärzte in Deutschland bis zu einem Fünftel ihres Umsatzes mit gesetzlich krankenversicherten Patienten durch Telekonsultationen erwirtschaften, und sie dürfen das ähnlich abrechnen wie normale Patientenbesuche, mit einem Abschlag von rund 20 Prozent. Außerdem sind mittlerweile elektronische Rezepte und Krankschreibungen erlaubt, und spätestens in ein bis zwei Jahren sollen sie auch flächendeckend zur Verfügung stehen. Kein Wunder, dass Anbieter von Videosprechstunden in den Startlöchern stehen. Als ein Platzhirsch gilt das Münchener Unternehmen TeleClinic: „In den letzten 18 Monaten sind wir pro Monat um 20 Prozent gewachsen“, berichtet Gründerin Katharina Jünger. Bisher werden vor allem privat versicherte Patienten behandelt. Ab Sommer sollen nun auch gesetzlich Krankenversicherte bundesweit Ärzte per Video-App konsultieren – und bald dann auch GKV-Rezepte erhalten können.


Die Konkurrenz schläft nicht. Der schwedische Marktführer Kry will mit einem ähnlichen Angebot auf den deutschen Markt. Zava, ehemals DrEd, ist auf dem Sprung, außerdem Medgate Deutschland, ein Joint Venture der Rhön Klinikum AG mit dem Schweizer Telemedizinanbieter Medgate. Bei den Hautärzten kooperiert der Berufsverband der deutschen Dermatologen mit der Schweizer Plattform OnlineDoctor. Und bei Arztportalen wie Jameda können Ärzte Videosprechstunden ohne Intermediär selbst anbieten. Klar ist, dass nicht jeder Patient per Video versorgt werden kann. Bei einigen Plattformen gibt es Listen von Erkrankungen und Konstellationen, die generell nicht online versorgt werden. Bei plattformunabhängigen Videosprechstunden ist es in der Verantwortung des einzelnen Arztes, die Grenzen der reinen Online-Versorgung zu erkennen.

 

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