Dem Krebs zu Leibe rücken

Mit dem demografischen Wandel wird Krebs zunehmend zur Volkskrankheit. Intensive medizinische Forschung hat aber dazu geführt, dass er heute besser behandelbar ist als früher. Damit steigt auch die Bedeutung der Früherkennung.
Illustration: Jennifer van de Sandt
Illustration: Jennifer van de Sandt
Mirko Heinemann Redaktion

Sie gilt inzwischen als das schärfste Schwert der Krebsmedizin.

 

In den nächsten Jahren, so ist zu befürchten, wird die Zahl der Menschen rapide steigen, die an Krebs sterben. Die Schuld daran trägt das Coronavirus. Denn im Zuge des Ausbruchs der Corona-Pandemie wurden in vielen Ländern alle verfügbaren medizinischen Ressourcen mobilisiert, um schwer an COVID-19 Erkrankte versorgen zu können. Weniger dringliche Leistungen zur Vorbeugung und Behandlung wurden im Gegenzug heruntergefahren. Darunter litt auch die Krebsvorsorge. Sie kam in vielen Ländern teilweise zum Erliegen – auch in Deutschland.   

 Daran mahnte eine Gruppe von US-amerikanischen und israelischen Wissenschaftlern in einem Beitrag in der Fachzeitschrift European Journal of Cancer. Am Beispiel der USA wiesen sie nach, dass dort in jedem Monat, in dem das Mammographiescreening infolge der Corona-Pandemie ausgesetzt wird, 70.000 Brustkrebsfälle undiagnostiziert bleiben. Werden sie später entdeckt, steigt das Risiko, dass sich die Therapie stark verzögert – und sich dadurch die Heilungsprognose deutlich verschlechtert.

Die Screening-Programme zur Früherkennung von Krebserkrankungen haben sich als eine der schärfsten Waffen der Krebsmedizin erwiesen. Denn zwar ist fast jede Form von Krebs heute behandelbar. Wie groß aber die Chancen auf Remission der Krebszellen oder gar Heilung sind, hängt davon ab, in welchem Stadium der Krebs diagnostiziert wurde. Hat er ein fortgeschrittenes Stadium erreicht und bereits Metastasen an anderen Stellen im Körper gebildet, wird eine erfolgreiche Therapie oder gar Heilung immer schwieriger.

Darauf verweist auch die US-israelische Forschergruppe. Einige der Krebsarten, die im Screening enthalten seien, wie Gebärmutterhals- und Prostatakrebs, wachsen in der Regel eher langsam und könnten durch das Screening schon als Vorstufen entdeckt werden. Hier sei eine etwas verzögerte Diagnose in vielen Fällen noch kein Problem. Andere Krebsarten, wie etwa Brust- und Lungenkrebs, wachsen jedoch oft rasch. Und je weiter der Krebs fortschreitet, desto geringer werde die Überlebenswahrscheinlichkeit der Patienten, so die Wissenschaftler.

Die Zahl der Neuerkrankungen an Krebs hat sich seit den 1970er-Jahren in Deutschland fast verdoppelt. Für das Jahr 2020 schätzt das Robert-Koch-Institut die Zahl der neudiagnostizierten Krebserkrankungen auf rund 510.000 Fälle. Die häufigsten Krebserkrankungen sind bei den Männern Prostatakrebs, es folgen Lungen- und Darmkrebs. Frauen sind am häufigsten von Brustkrebs, Darmkrebs und Lungenkrebs betroffen.

Ein Hauptgrund für die steigenden Krebsraten ist der demografische Wandel. Die Menschen werden immer älter, und damit steigt auch das Risiko einer Erkrankung. Zugleich weist die Weltgesundheitsorganisation auf den ungesunden Lebenswandel hin, der sich mit dem wachsenden Wohlstand weltweit durchsetzt. Die Zahl der Raucher steige weltweit massiv an, auch der Konsum von Alkohol nehme zu.

Zugleich verzeichnet der Fortschritt in der Medizinforschung enorme Erfolge. Denn berücksichtige man, dass die Menschen heute im Durchschnitt viel älter als noch vor 20 Jahren werden, so gehe die Krebssterblichkeit in Deutschland seit Jahren zurück, erklärt der Krebsinformationsdienst des Deutschen Krebsforschungszentrums DKFZ. „Die Lebenserwartung Betroffener ist vielmehr stark angestiegen. Vor 1980 starben mehr als zwei Drittel aller Krebspatienten an ihrer Krebserkrankung. Heute kann mehr als die Hälfte auf dauerhafte Heilung hoffen.”

 Lange standen Patienten im fortgeschrittenen Stadium außer Chemotherapien und Bestrahlungen keine weiteren Therapiemöglichkeiten zur Verfügung. Dank der Fortschritte im Bereich der Genomforschung können nun mehr und mehr personalisierte Therapien zum Einsatz kommen. Auch die Immuntherapie eröffnet vielversprechende Möglichkeiten. Sie arbeitet mit sogenannten Checkpoint-Inhibitoren, die das körpereigene Immunsystem gegen die Tumorzellen aktivieren können.

Vor allem Darmkrebs, der häufigste Krebs bei Männern und Frauen, lässt sich gut behandeln, wenn er frühzeitig erkannt wird. Wie gut, zeigte kürzlich eine Studie des DKFZ. Die Forscher hatten die Daten von 4.200 Menschen mit Darmkrebs und 3.300 Kontrollpersonen analysiert und berechneten das Risiko, ab dem 50. Geburtstag innerhalb von 30 Jahren an Darmkrebs zu erkranken.

Hierzu wurden die Probanden anhand von genetischem Risiko und Lebensstil-Faktoren in jeweils drei Gruppen mit hohem, mittlerem oder niedrigem Risiko eingeteilt. Bei der Analyse wurde ebenfalls berücksichtigt, ob jemals eine Darmspiegelung durchgeführt worden war. Das Ergebnis der Untersuchung: Bei Männern mit einem hohen genetischen Risiko und einem ungesunden Lebensstil, die keine Darmspiegelung wahrgenommen hatten, lag das 30-Jahres-Risiko für Darmkrebs bei 13,4 Prozent. Bei Männern mit ähnlichem genetischen Hintergrund, die gesund lebten, lag das Risiko bei nur 7,6 Prozent. Diejenigen, die einen gesunden Lebensstil pflegten und zudem an einer Darmspiegelung teilgenommen hatten, konnten ihr Risiko sogar auf 2,6 Prozent senken.

Um die Dringlichkeit von Vorsorgeuntersuchungen herauszustellen, veröffentlicht die Schweizer Krebsliga Betroffenenberichte in ihrem Magazin aspect. Fast allen gemein ist, dass sie sich vor ihrer Erkrankungen kaum mit dem Thema Krebs auseinandergesetzt hatten. Der Schweizer Peter Brunold etwa sah Anfang 50 keinen Grund, sich untersuchen zu lassen. In seiner Familie war nie jemand an Darmkrebs erkrankt. Peter Brunold ernährte sich ausgewogen und fühlte sich gesund. Er ging erst zum Arzt, nachdem ein Mann ihm auf einer Messe gesagt hatte: „Sorry, Sie haben Blut an der Hose.” Peter Brunold: „Ich entkam dem Tod knapp.“

Auch Jean W. aus Zürich schilderte der Krebsliga sein Schicksal. Er hätte, wie er sagt, schon viel früher zum Urologen gehen sollen. Aber er hatte die Krebsvorsorge aufgeschoben. Zudem hatte der sportlich aktive Mann keine Symptome. Als er dann die Diagnose Prostatakrebs mit bereits befallenen Lymphknoten bekam, wurde er sofort operiert. „Die Inkontinenz nach der Operation war ein schlimmes Gefühl”, berichtet er. Mit Hilfe einer Physiotherapeutin lernte er, die Inkontinenz etwas besser in den Griff zu bekommen. Nach einem halben Jahr sei es praktisch wieder normal gewesen, erzählt er. Ehrlicherweise müsse er aber auch sagen: „So wie vor der Operation ist es nicht mehr.” In der Sexualität habe sich auch einiges verändert. Es gehe darum, „die neuen Realitäten” zu akzeptieren.

Vor allem Männer sind nachlässig, wenn es um die Vorsorge geht. Laut den Krankenkassen gehen knapp 50 Prozent aller Frauen ab 20 Jahren regelmäßig zur Krebsfrüherkennung, bei den anspruchsberechtigten Männern ab 45 sind es noch nicht einmal 20 Prozent. Obwohl Prostatakrebs die häufigste Krebserkrankung bei Männern ist, nimmt nur eine Minderheit das Angebot zur Krebsfrüherkennung wahr. Nahezu 60 Prozent der Männer im Alter ab 45 Jahren nehmen sogar an keinerlei Vorsorgeuntersuchung teil.

Frauen sollten ab 20 einmal im Jahr zum Gynäkologen, um Gebärmutterhalskrebs auszuschließen und ab 30 zusätzlich Brust und Achselhöhlen abtasten lassen. Ab 50 steht ihnen dann außerdem eine Röntgenuntersuchung zu. Für beide Geschlechter gilt, dass sie regelmäßig das Hautkrebsscreening und ab 50 die Darmkrebsvorsorge wahrnehmen sollten.

Und wie sieht es aktuell bei der Früherkennung aus? Nach der Corona-Pause wurde in Deutschland im Mai das Mammographiescreening wieder aufgenommen. Seitdem werden wieder Einladungen an die anspruchsberechtigten Frauen geschickt – auch an diejenigen, die die Einladung eigentlich während der Pause hätten erhalten müssen. Alle Frauen, die ihren Termin während der Pause nicht wahrnehmen konnten, dürfen ihn nachholen. Dazu ist dringend zu raten.

 

Medizin
Oktober 2023
Illustration: Olga Aleksandrova
Redaktion

Was der Krebs nicht mag

Wir haben unsere Gesundheit in vielerlei Hinsicht selbst in der Hand. Wer sich gesund ernährt, genügend bewegt und andere Risikofaktoren wie Rauchen und Alkohol vermeidet, verringert auch das Krebsrisiko.