Der unterschätzte Mensch

Ist die digitale Transformation im Kern vielleicht weniger eine technische als eine soziale Transformation? Und was bedeutet das für den Bereich Unternehmensführung?
Iza Bułeczka
Illustration: Iza Bułeczka
Klaus Lüber Redaktion

Eigentlich müsste man vor jemandem wie Hans Christian Boos Angst haben. Boos ist Mitbegründer und Chef von Arago, einem Hightech-Unternehmen, das sich auf das Themenfeld Künstliche Intelligenz spezialisiert hat. Und KI-Systeme werden uns doch die Arbeit wegnehmen. Oder, was im Grunde fast genauso schlimm ist: Sie werden unsere Arbeit überwachen bis ins letzte Detail, wovor etwa der Economist kürzlich in einer eigenen Titelgeschichte warnte.

Es ist vielleicht nicht überraschend, dass Herr Boos selbst das anders sieht. Aber vielleicht doch überraschend, wie weit seine Einschätzung der Lage von dem inzwischen recht weit verbreiteten Angstszenario der Machtübernahmen durch Maschinen abweicht. Im Grunde, so Boos, hätten wir seit Jahrzehnten hart daran gearbeitet, unsere Arbeitswelt so effizient und damit maschinenzugreifbar wie möglich zu gestalten. „Wenn wir uns aber darauf einigen können, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, mit großen Netzwerken und eben nicht linearen Beziehungen, dann passt unsere heutige Arbeitswelt überhaupt nicht zum Menschen. Und jetzt wird sie auf den Kopf gestellt. Weil diese entmenschlichte Arbeit zu einem großen Teil von etwas erledigt werden wird, das genau dafür gemacht worden ist. Nämlich von der Maschine.“

Im Grunde also ist die Digitalisierung nicht der Feind, sondern der Freund des Menschen? Weil sie wieder Freiräume für Tätigkeiten schafft, die unserem Wesen viel eher entsprechen? Das klingt natürlich sehr schön und Herr Boos kann dazu auch konkrete Szenarien benennen. „Stellen Sie sich vor, Sie könnten große Teile des Erfahrungswissens eines mittelständischen Unternehmens, etwa im Bereich IT, Versicherungen oder industriellen Fertigungsprozessen, an ein KI-System abgeben.“ Dann nämlich, so Boos, hätten die Mitarbeiter des Unternehmens endlich Zeit, sich mit dem zu beschäftigen, was angesichts der Digitalen Transformation dringend notwendig wäre: der Suche nach neuen Geschäftsmodellen.

Mit einem reinen Perspektivwechsel von der Technologie als Zerstörer alter hin zum Ermöglicher neuer Strukturen allein ist es natürlich noch nicht getan. Die neuen Strukturen müssen sich auch entwickeln. Dass das kein Selbstläufer ist und im Kern viel mit einer Offenheit für eine neue Unternehmenskultur zu tun hat, davon weiß etwa der Wirtschaftsjournalist Thomas Ramge zu berichten. Ramge hat sich intensiv damit beschäftigt, welche Rahmenbedingungen gegeben sein müssen, damit Firmen Big-Data-Projekte erfolgreich umsetzen können. Seine Analyse: Viele Unternehmen unterliegen dem Trugschluss, der bloße Einsatz einer innovativen Technologie würde ausreichen, um Transformationsprozesse in Gang zu bringen. „Was solche Unternehmen ganz dringend brauchen, noch bevor man über den konkreten Einsatz von Technik nachdenkt, ist eine sich langsam vortastende, konsequente Strategie, wie man Datenanalyse überhaupt sinnvoll betreiben kann.“

Die digitale Transformation ist also im Kern eine soziale Transformation? Genau das ist auch die Grundthese von Reinhard K. Sprenger in seinem aktuellen Buch „Radikal Digital“. Der renommierte Management-Autor argumentiert dabei ähnlich wie KI-Unternehmer Hans-Christian Boos: Es sei gerade die technische Entwicklung, die die Re-Integration des Menschen in die Wertschöpfungskette ermöglicht und sogar notwendig macht. „Digitalisierung bedeutet in ihrem Kern eben keine Technik-Revolution, gerade nicht die Macht der Maschinen und die Herrschaft der Algorithmen. Sondern Konzentration auf das Wesentliche, was nur Menschen leisten können.“ Sprenger meint damit die Bereiche Service, Kooperation und Kreativität.

Was bedeutet dies nun für den Bereich Unternehmensführung? Einen radikalen Paradigmenwechsel, sagt Sprenger. Über viele Jahrzehnte wurde die Managementtheorie dominiert von personenzentrischen Ansätzen, die Digitalisierung erfordert aber eine Änderung an den Strukturen. „Von New Work bis zur Demokratisierung wird gefragt: Haben wir die richtigen Strukturen? Sind wir so aufgestellt, dass wir schnell neue Geschäftsmodelle aufbauen können, die mit der digitalen Welt kompatibel sind?“ Was passiert, wenn Unternehmen im alten Paradigma von Persönlichkeit, Planung und Profitmaximierung verhaftet bleiben, schilderte der Psychologe Peter Kruse vor einiger Zeit gegenüber dem Onlineportal XING Spielraum: „Wenn wir implizit, durch die Art der gesetzten Anreize, immer noch der Meinung sind, dass Führung ausschließlich effizient und profitmaximierend agieren muss, wird eine Transformation schwierig.“

Dennoch, die Zeiten scheinen auf Wandel zu stehen. Für ihr Buch „Digitalisieren mit Hirn“ haben die beiden Unternehmensberater Sebastian Purps-Pardigol und Henrik Kehren dokumentiert, wie Unternehmenskulturen inzwischen regelrecht umgekrempelt werden, um den neuen Anforderungen gerecht zu werden. Wie zum Beispiel im Schweizer Telekommunikationsunternehmen Swisscom. „Dort haben tatsächlich 100 Menschen wie in einem gallischen Dorf gesagt, wir machen jetzt mal alles anders“, so Purps-Pardigol gegenüber der Wirtschaftswoche. Die Mitarbeiter wollten selbst entscheiden, wie Dinge priorisiert werden und wann was entwickelt wird. Die Chefebene ließ sich darauf ein. Das Ergebnis: TV 2.0, ein digitales TV-Projekt, das heute 400 Millionen Franken im Jahr einbringt. Ein weiteres Beispiel ist die Hamburger Hafenlogistik AG. Dort wurde beschlossen, alle durch digitalisierte Prozesse erreichten Einsparungen mit den Mitarbeitern zu teilen. Plötzlich zogen sämtliche Akteure, auch der Betriebsrat und die Gewerkschaften, an einem Strang, „sodass alle die Digitalisierung nicht nur als dunkle Wolken gesehen haben“, wie Henrik Kehren es beschreibt, sondern als Chance zur Veränderung.

Natürlich, man könnte die These vom Comeback des Menschen durch Technologie für naiv halten – angesichts der riesigen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen, die durch die Digitalisierung noch auf uns zukommen. Andererseits: Was soll man davon halten, wenn selbst Tesla-Chef Elon Musk, bislang einer der rigorosesten Vertreter von durchautomatisierten, menschenfreien Produktionsprozessen, inzwischen fast kleinlaut in einen Tweet zugibt: „Ja, exzessive Automation bei Tesla war ein Fehler. Um genau zu sein, mein Fehler. Menschen sind unterschätzt.“

 

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